Annas schwarzes Tier

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Sie geht am Fluss entlang. Ohne Ziel, ohne eine Idee wohin. Es ist dunkel, dabei ist es ja nie ganz dunkel in der Stadt, überall brennen Strassenlaternen, schimmert Licht aus den Fenstern der Häuser, zünden die Scheinwerfer der Autos in ihr Gesicht. Wohin soll sie gehen, so allein? In ihr ist alles dunkel, alles schwarz. Da gibt es keine Strassenlaternen, nichts, einfach nichts. Leere, Vakuum. Nichts. Sie ist einfach losgelaufen, sie kann sich nicht mehr erinnern warum oder wann. Vielleicht hat es auch gar keinen speziellen Anlass gegeben, sie weiss es nicht mehr. Die Dunkelheit ist wie ein grosses Tier, das sie verfolgt. Überall hin. Es wirft seinen grossen Schatten auf sie, verdunkelt ihr die Sicht, egal wo sie hingeht. Selbst den hellsten Sommertag mag es zu verdunkeln. Manchmal mag sie dieses Tier, es ist ihr so vertraut und es ist schon so lange da, seit sie denken kann. Manchmal redet sie mit ihm. Wie mit einem guten Freund, einem Vertrauten, jemandem, von dem man weiss, dass er alles über einen weiss und alle Geheimnisse kennt. Das Tier ist launisch. Manchmal, wenn es schlecht gelaunt ist, hat sie richtig Angst vor ihm. Dann jagt es sie durch die Strassen, wie heute, und sie will ihm nur entkommen. Sie will sich verstecken, doch es findet sie immer, sie kann es einfach nicht abschütteln. Das sind die schlimmen Tage. Die eisigen, wüsten Klauen des Tiers halten ihr Herz im harten Griff. Es zerdrückt sie fast, sie kriegt kaum Luft und kann sich fast nicht mehr bewegen. Manchmal kann sie nicht einmal aufstehen. Dann steht das Tier vor ihrem Bett und lacht sie aus, verhöhnt sie, weil sie so ein Jammerlappen ist, der noch nicht mal aufstehen und sich anziehen kann. Wie soll jemand sie da ernst nehmen oder gar gern haben? Sie glaubt dem Tier – es kennt sie ja schon so lange und so gut. Wie gelähmt bleibt sie an diesen Tagen in ihrem Bett liegen. Sie starrt an die Decke, am Tier vorbei, das sie verhöhnt und beschimpft. Da oben kraxelt eine Spinne an der weissen Decke. Schwarz, mit langen dünnen Beinchen. Sie sieht ihr zu, unbeteiligt, fühlt nichts mehr. Das Tier füllt alles aus mit seiner Schwärze, in ihr ist nur noch ein Vakuum, ein dunkles Loch in das sie zu fallen droht wenn sie nicht aufpasst. Sie ist froh, wenn sie dann endlich reinfällt. In einen tiefen, traumlosen Schlaf. Manchmal kommt danach ein besserer Tag. Manchmal auch nicht, dann muss sie tagelang warten, bis das Tier irgendwann seiner Wache an ihrem Bett überdrüssig ist. Vielleicht hat es genug da zu stehen, denkt sie sich. Oder es ist vielleicht doch freundlicher als sie denkt. Dann steht es etwas abseits, lässt ihr Herz los und sie bekommt wieder etwas Luft zum atmen. Sie kann aufstehen, sich anziehen, Kaffee machen und zur Arbeit gehen. Da steht das Tier dann neben ihrem Tisch oder manchmal sogar draussen auf dem Gang. Manchmal, wenn es ganz grosszügig ist, wartet es in der Kantine auf sie. Dann fühlt sie sich fast schon komisch, so allein im Büro, ohne ihren schwarzen Schatten. Die Schöne und das Biest. Die anderen Leute wissen nichts von ihrem Tier. Von ihrem besten Freund und zugleich grössten Feind. Sie wissen nicht, dass Anna nie alleine ist. Sie wissen nur, dass sie manchmal traurig ist, etwas schwermütig, sie habe halt Weltschmerz, sagt sie immer. Sie ist eben eine Melancholikerin, sie war ja schon immer etwas in sich gekehrt und nachdenklich, sagt ihre Mutter. Ihre Mutter kennt das Tier auch nicht. Anna hat mal versucht, es ihr zu erklären. Aber die Mutter lachte nur traurig und verstört. Wer sagt denn so was, Anna, so ein Tier gibt es nicht! Wo hast du das nur wieder her? Seit da sagt sie nichts mehr. Das Tier faucht sowieso jedesmal böse, wenn sie daran denkt, jemandem von ihm zu erzählen. Sie werden dir nicht glauben, höhnt es. Wer wird dir schon glauben? Dass ich nicht lache! Und selbst wenn sie ihr glauben würden. Was würde es schon ändern? Das Tier gehört zu ihr, schon immer. Obwohl sie es gerne los werden würde. Abschütteln, davon rennen, die schwarze Bürde einfach abwerfen. Aber sie kann nicht. Es ist vertraut, und schafft irgendwie eine komische Sicherheit, eine merkwürdige Art von Geborgenheit, weil sie ja so doch nie allein ist. Aber an den guten Tagen, da denkt sie schon manchmal daran, es einfach nicht mehr abzuholen in der Kantine. Es da einfach zurück zu lassen. Heim zu gehen und es nicht mit zu nehmen. Sie lächelt still in sich hinein, wenn sie daran denkt wie das Tier dann stundenlang da auf sie warten würde und sie einfach nie mehr wieder kommt. Ein paar mal hat sie es auch versucht. Einmal, da hat sie sich hinten rausgeschlichen. Sie kam bis zum Ufer vom See, bei dem kleinen Restaurant, wo sie einen Kaffee trinken wollte, um ihre neue Freiheit zu feiern. Da stand es und lächelte böse. Wo bist du nur gewesen!? Hast mich versucht loszuwerden was? Aber so einfach geht das nicht, ha, was denkst du wer du bist? So eine traurige Gestalt wie du, so ein nichtsnutziger Jammerlappen, noch nicht mal bis zum See kommst du ohne mich. Dann schlossen sich die Klauen wieder um ihr Herz. Kälter und schmerzhafter als je zuvor. Dann Nichts. Anna ist im Krankenhaus wieder erwacht. Die Ärzte fragen sie, ob sie das absichtlich gemacht habe? Warum sie sich habe das Leben nehmen wollen? Anna weiss es nicht mehr. Sie kann sich nicht erinnern, weiss nicht mehr was war. Sie sieht nur noch die verzerrte Fratze des Tieres. Sie kann sich erinnern, dass sie es nicht mehr ertragen hat, dieses hämisch grinsende Gesicht. Sie wollte einfach nur noch weg, es einfach nie mehr sehen müssen, sie konnte es nicht mehr ertragen. Das Tier steht da, neben ihrem Bett. Und schon wieder lacht es sie aus! Anna weiss nicht mehr weiter. Soll sie dem freundlichen Arzt im weissen Kittel vom Tier erzählen? Doch sie traut sich nicht. Er sieht nett aus, aber sie hat den Verdacht, dass er sie nicht verstehen wird. Niemand versteht sie. Schon oft hat sie vorsichtig versucht, heraus zu finden, ob eine ihrer Freundinnen auch so ein Tier hat. Sie hat belanglose Fragen gestellt, einige Andeutungen gemacht. Aber immer stiess sie auf Verständnislosigkeit, ihre Freundinnen hatten keine Ahnung, wovon Anna da redet. Nur eine meinte mal, ach ja, natürlich, Charly habe sie. Das ist ihr Hund, den sie sogar ins Büro mitnehmen darf, ihr Chef ist ja so grosszügig! Ob Anna in dem Fall auch einen Hund habe? Sie hätte heulen können. Seit dann hat sie aufgegeben und traut sich darum auch nicht, dem netten Arzt von ihrem Tier zu erzählen. Also sagt sie ihm, es sei ein Unfall gewesen, natürlich sei sie nicht freiwillig gesprungen, wo denke er denn hin! Nein, natürlich nicht, und weil Schnee gelegen hat an dem Tag, ein klirrender kalter Wintertag, glaubt man ihr. Der Arzt ist zu freundlich, um ihr weiter auf die Pelle zu rücken. Anna ist froh kann sie bald wieder heim. Das Tier nimmt sie mit. Sie haben einige enspanntere Wochen zusammen, es weicht ihr zwar nie von der Seite, aber es lockert seine Klaue um ihr Herz ein bisschen. Anna kann arbeiten gehen, mit Freundinnen ausgehen, Kaffee trinken in der Stadt, ins Kino. Sie verliebt sich sogar ein bisschen. In Matthias, ein stiller Mann mit lustigen Augen. Sie kennt ihn von der Arbeit, er ist Koch in der Kantine. Vielleicht lässt das Tier sie darum ein bisschen glücklich sein mit ihm. Aber immer ist es da. Manchmal bleibt es in der Stube, wenn Anna mit Matthias im Schlafzimmer liegt. Aber manchmal kommt es rein, penetrant, nervig und unübersehbar. Dann ist Anna abgelenkt, unzugänglich, das Tier verlangt ihre ganze Aufmerksamkeit. Du hast einen so leeren Blick, Anna, was ist los, wo bist du? Matthias ist dann sauer, weil sie sich nicht auf ihn konzentrieren kann. Er versteht nicht, warum sie so schwermütig ist. Er wird fast böse und ist beleidigt, sie könnten es ja so schön haben, wenn Anna sich nur ein bisschen zusammen reissen würde, Herrgott nochmal, dabei ist er extra wegen ihr gekommen. Anna tat es immer wahnsinnig Leid, und sie hat ein schlechtes Gewissen, denn sie mag Matthias wirklich sehr. Doch sie bleibt stumm, sprachlos in ihrer Panik. Zuviel Angst hat sie, vor dem Tier, davor, dass Matthias dann denkt sie wäre übergeschnappt und sie verlässt. Denn das wäre schlimm für Anna. Sie klammert sich an die Abende mit ihm, auch wenn sie ihm oftmals kaum Aufmerksamkeit schenken kann, weil das Tier seine Klaue so eng zusammen zieht. Sie ist trotzdem froh, ist sie nicht alleine mit dem Biest.

Irgendwann gibt Matthias auf. Er ist enttäuscht, fühlt sich unverstanden, nicht genug geliebt von Anna. Sie verzweifelt fast, geht raus, ziellos, irrt umher. Einmal mehr erträgt sie das höhnische Grinsen nicht mehr. Sie hält es einfach nicht mehr aus, sieht nichts mehr, nur dunkel, nur schwarz, keine Sterne, kein Mond. Nicht das Leuchten der Stadt, die lustigen Menschen in den Gassen, die fröhlichen Gesichter hinter den Fenstern, das Glitzern der Lichter auf dem Fluss, einfach nichts. Das Tier versperrt ihr den Blick auf alles mit seiner fiesen Fratze. Anna weiss keinen Ausweg mehr. Sie weiss nicht, was sie tun soll, wohin sie gehen kann, nur das es sie endlich in Frieden lässt. Sie hält es einfach nicht mehr aus. Sie fällt und fällt, tiefer und tiefer, ins Bodenlose, in die schwarze Nacht. Immer weiter immer tiefer, es gibt kein Boden, kein Ankommen, kein Ende. Sie fällt ins schwarze Universum, wo kein Licht mehr hinkommt. In ein schwarzes Loch, das sie immer weiter einsaugt. Um sie nur noch Schwärze, Vakuum. Nichts. Nicht mal mehr das Tier kommt hier noch hin. Zum ersten Mal ist Anna allein. Irgendwann sieht sie helles, goldenes Licht. Sie ist angekommen, hat das Tier für immer abgeschüttelt. Es konnte ihr nicht folgen, in diese neue Welt. Anna hat jetzt Flügel.

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