Ich gehe ganz langsam. Schritt um Schritt, um Schritt. So langsam bin ich noch nie durch diesen Wald gegangen. Eigentlich meine Trainingsstrecke zum joggen, bin ich hier schon unzählige Male entlang gerannt. Aber noch nie bin ich hier langsam gelaufen. Ich kenne alles, und trotzdem ist es, als würde ich die Strecke zum ersten Mal gehen. Das Baumhaus etwas abseits vom Weg, war es schon immer da? War es schon immer so weit, so steil, gab es schon immer so viele Kurven? Ich habe Zeit, Zeit die Düfte an den Bäumen zu bestaunen, den blauen Himmel. Die kleinen Kiesel im Schnee. Die Dimensionen haben sich verändert. 600 Meter sind plötzlich ein halber Marathon. Ich gehe Schritt für Schritt, in zeitlupe, komme kaum voran, so scheint mir und bin plötzlich doch am Ziel.
Meine Welt ist von einer Sekunde auf die andere klein geworden. Ein Knochen im Bein gebrochen und alles ist anders. Die Welt geht in slow motion, mein Leben auf Stand by.
Wenn die Welt kleiner wird, werden normale Dinge plötzlich gross. Ein Hügel zum Berg. Eine Stufe zur Mauer. Kleine Freuden zum grossen Glück. Ich schätze es, überhaupt hier zu sein, im Schnee kleine Schritte zu machen. Die Flocken fallen auf meine Jacke, meine Haare, aber ich friere nicht. Eile kommt plötzlich nicht mehr vor in meinem Tag. Hat sich aus meinem Leben geschlichen. Nahes wird plötzlich fern, fast unerreichbar weit. Ich lebe langsamer, lebe nur noch jetzt, hier. Gestern gibt es nicht mehr, so weit liegt das alte Leben zurück. An Morgen mag ich noch nicht denken, wer weiss schon was Morgen ist. Die Zeit zerfliesst, wie goldener, zäher Honig, langsam, ohne Eile ohne Hast. Ohne Druck. Ich habe das Gefühl für die Zeit verloren. Zeit ist nicht mehr so wichtig, sie ist einfach da. Ich lebe in einem andern Rhythmus. Das Leben zieht vorbei und ich schaue zu und frage mich, wo da mein Platz war? Es scheint so fremd, so fern, dabei ist es gar nicht lange her. Ich sehe eine neue Welt, sehe meine alte Welt mit neuen Augen. Ich lebe in einer neuen Realität. Einer anderen, wo vieles anders ist und manches gleich, aber ich erlebe es auf eine neue Art und Weise. Und selbst hier, so beschränkt in meinem kleinen Universum, gibt es so viele schöne Sachen, kleines Glück, grosses Glück, so viele schöne Momente.
Das Leben steht still, ich stehe still. Mein altes Leben ist so fern, weit weg, schon fast wie ein Traum. Habe ich es wirklich einmal gelebt, dieses schnelle, übervolle Leben auf der Überholspur? Bin ich wirklich so schnell gerannt, so hoch gesprungen, soweit geflogen? War ich das auf all den hohen Bergen, den Gipfeln? Habe ich so wild zu lauter Musik getanzt? Bin ich durch den strömenden Regen gefahren, auf dem Rennrad, zu schnell, gehetzt, immer schon fast wieder zu spät? Wollte ich soviel vom Leben, so viele Momente dass ich schon fast keinen Platz mehr für sie fand? Hatte ich immer soviel Angst, etwas zu verpassen? Jetzt verpasse ich alles. Und wache auf und merke, dass es gar nicht schlimm ist. Ich verpasse viel – ja so ist das. Aber ich erlebe dafür auch viel, neues, anders. Ich lerne mich kennen, noch besser, noch tiefer. Ich bin jetzt ehrlich, mit mir selber, sonst bin ich niemandem Rechenschaft schuldig. Ausser mir selber. Das ist das Mindeste, was ich von mir erwarten kann, finde ich. Also bin ich ehrlich, schonungslos. Eine unbequeme Wahrheit, die auch weh tut. Aber ich bin froh, ihr endlich ins Auge zu blicken, ich habe ihre Anwesenheit schon lange gespürt, sie sass mir im Nacken, ich habe sie gefühlt, ein eisiger Luftzug hinter mir. Jetzt blicke ich hin, nehme es wahr und schaue endlich hin.